: Martin Schuster
: Fotos sehen, verstehen, gestalten Eine Psychologie der Fotografie
: Springer-Verlag
: 9783540274933
: 2
: CHF 12.20
:
: Naturwissenschaften allgemein
: German
: 263
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF

Ein Bild sagt oft mehr als tausend Worte und mit dem Fotoapparat ist es leicht, sich ein oder auch viele Bilder zu machen. Martin Schuster spürt den psychologischen Aspekten der Fotografie nach: Welche Motive werden gewählt? Was verbindet Fotografen und Fotografierte? Was erleben wir beim Betrachten eigener und fremder Fotos? Er zeigt, wie Fotos genutzt werden können, um die Vergangenheit wieder lebendig zu machen und wie Presse- und Werbefotografen mit Fotos an unsere Wünsche und Sehnsüchte appellieren. Hinweise zur Alltagsfotografie ermuntern dazu, ungeachtet künstlerischer Ambitionen die Fotografie für das eigene Leben intensiver und persönlicher zu nutzen.

Die völlig überarbeiteten und aktualisierte Auflage wurde um ein Fotopraktikum erweitert, das Anregungen für Motive gibt, bei denen der Fotograf fotopsychologische Kenntnisse umsetzen kann. Ein ausführliches Kapitel zur digitalen Fotografie rundet die Neuauflage ab.

7 Das Porträtfoto (S. 127-128)

Schon zu Urzeiten konnte man sein eigenes Antlitz betrachten. Damals war es der Wasserspiegel, der diese Möglichkeit bot. Das bewegte Spiegelbild schien so etwas wie die Seele zu sein. So ranken sich bis heute um den Spiegel und das Spiegelbild, aber auch um das Abbild allerlei mythische Annahmen, die unsere Gedanken und Gefühle gegenüber der Fotografie beeinflussen. Aus solchen Quellen speisen sich sicher auch die Vorschriften des Feng Shuiüber Spiegel in Wohnungen. Der Spiegel soll z. B. genügend Platz bieten, um neben dem Gesicht auch noch die Aura aufzufangen.

Die Seele kann sich vielleicht also im Spiegel fangen? In Sterbezimmern wurden die Spiegel abgehängt, damit die Seele des Toten nicht im Spiegel festgehalten wird. Nach deutschem Aberglauben kann ein Verstorbener im Spiegel erscheinen, wenn sein Name gerufen wird (vgl. Hartlaub 1951). Und wer ein Spiegelbild»mitnimmt«, hat ein Stück Seele eingefangen. Die Fotografie ist ja– gleichsam– ein feststehendes Spiegelbild. Aus derÜberlieferung heraus dürfen wir also durchaus bei den Menschen die Befürchtung erwarten, dass der Besitz einer Fotografie eine magische Einflussnahme ermöglicht. Die dem Spiegelbildähnliche Fotografie hat dabei sicher noch eine ganz andere magische Qualität als das gemalte Bild. Spitzing berichtet (1989), dass in der Türkei ein Anschneiden des Kopfes aus einer Fotografie gefürchtet ist. Man fürchtet eine– analoge– magische Einflussnahme auf den so»Beschnittenen«.

Zum Nachweis der Bildmagie wurden sogar wissenschaftliche Studien betrieben. Büchner (1914) befestigte die Fotografie einer (anwesenden) Person zwischen zwei Metallplatten, durch die er dann Strom fließen ließ. Er schrieb das Ergebnis nieder (S. 522):

»Ohne von dem beabsichtigten Versuch unterrichtet zu sein,äußert sich die Wirkung nach Einschalten des Stromes in mannigfacher Weise. Eigenartige Gefühle in den Beinen, teils auch im Kopf und im Magen, zuweilen auch starke Müdigkeit und ein prickelndes Gefühl in den Gliedern zeigen den elektrischen Strom an.« Er glaubt, eine Fernwirkungüber mehrere Kilometer nachgewiesen zu haben.

Nadar (1978) schildert uns Balzacs (1799–1850) Ansicht, die Körper bestünden aus kleinen Schuppen oder Blättchen, von denen sich eine Schicht löst und auf die fotografische Platte gebannt wird. Er fürchtete sich davor, fotografiert zu werden. Mit Pendelversuchen wird von esoterischen Forschern die Stimmung der auf Fotos abgebildeten Personen und Tieren ergründet, weil die Fotografie angeblich auch Lebenszeichen ausströme. Die Befürchtung (z. B. heutiger Eingeborenenstämme und auch islamischer Kulturen), im Akt des Fotografierens werde ein Stück Seele weggenommen, ist also tief in unserer Geistesgeschichte verankert und auch wir sehen es normalerweise keineswegs gern, von Fremden fotografiert zu werden. Das aufgeklärte 19. und 20. Jahrhundert hat diese tiefere Schicht von Befürchtungen aber schnell in einen weniger bewussten Hintergrund verdrängt und die Fotografie als technischen Fortschritt gefeiert.

Für Bildnisse von Verwandten, Freunden und prominenten Zeitgenossen gab es schon vor der Fotografie eine rege Nachfrage. Sie wurde von Malern, Kupferstechern und Lithografen befriedigt. Natürlich war es kostspielig, ein Porträtbild anfertigen zu lassen. Je mehr Köpfe darauf abzubilden waren, um so teurer war es.

Inhaltsverzeichnis6
Bildnachweis12
Vorwort14
1 Fotopsychologie: Einleitung15
2 Die Historie der Fotografie und der Seele19
Fotos werden zum Ritualelement20
Fotos liefern Verhaltensmodelle22
Die sich wandelnde Akzeptanz Fotografie24
Die Fotografie und die Persönlichkeitsrechte25
Die Befreiung des bildhaften Denkens26
Ist Fotografie ein weibliches oder männliches Hobby?29
3 Fotografie und Wahrnehmung31
Die visuelle Wahrnehmung: wie sie abläuft31
Wie wird der Wahrnehmungsvorgang durch Fotos verändert?38
Räumliche Tiefe und Figur-Bildungen38
Die Hintergründe der Redner42
Neue visuelle Metaphern44
Verzerrung von nahen Objekten44
Die fallenden vertikalen Linien45
Der »Moment« des Fotos46
Die Fotografie und die historische Entwicklung der Wahrnehmung49
Das neue Seherlebnis als kulturelle Leistung55
Die Schönheit von Bildern und von Fotos56
Fotospezifische Erschwerungen der Bildwahrnehmung60
Malerei vs. Fotografie63
Stört das Fotografieren die aktuelle Wahrnehmung?65
Muss man lernen, eine Fotografie zu sehen?68
Fotopraktikum: Wahrnehmung71
4 Fotos und Erinnerungen73
Blitzlichterinnerungen74
Das Foto als Erinnerungsmarker (retrieval cue)76
Fotos und Urlaubserinnerungen – eine empirische Studie77
Erinnerungen und aktives Fotografieren79
Erinnerung an geliebte Sachen82
Fotos als Erinnerungen an geliebte Menschen85
Vergangenes behalten wollen, Vergangenes vergessen wollen87
Erinnerungen an sich selbst, die Identität88
Fotos formen die weitere Erinnerung89
Erinnerung an Fotos statt an die Wirklichkeit?91
Das Foto-Interview92
Fotopraktikum: Fotografie und Erinnerung94
5 Fotos in der Fototherapie95
Fotos sehen lernen96
Fotos als dokumentierte Vergangenheit98
Fotos als Stellvertreter von Personen102
Fotos als symbolischer Gegenstand104
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Äußeren105
Das Wiedererinnern und Aufrufen früherer Ressourcen108
Entwicklungsmöglichkeiten der Fototherapie108
Fototherapie und Kunsttherapie110
Eine Pathologie des Fotografierens? Das geheime Foto111
Fotopraktikum: Fototherapie113
6 Wie Fotos auf Instinkte wirken115
Das Objektiv als Auge115
Fotos »machen uns an«119
Die Entwicklung der erotischen Fotografie121
Das Auto als Ort erotischer Fantasien125
Einflüsse der erotischen Fotografie auf das Verhalten127
Wann sind Fotos pornografisch?128
Die Erotik des Fotografierens128
Kinderfotografie130
Food-Fotografie130
Ausdruckgesten als ritualisiertes Verhalten131
Der untypische Moment erhält im Foto Dauer134
Die Dauer des Fotos verändert die Bedeutung einer Mimik135
Fotopraktikum: Instinkte138
7 Das Porträtfoto141
Neue Verhaltensmöglichkeiten durch das Porträtfoto144
Eine neue Art des Ruhmes145
Die neue Kontinuität des »Ich« über den Lebenslauf146
Neue Möglichkeiten, ein Gesicht zu betrachten147
»Quasi-Bekanntschaft«, »Quasi-Gemeinschaft«148
Gesichtsausdruck und Gesichtsschönheit148
Der aktuelle Ausdruck149
Wie erreicht man spontanen Ausdruck?150
Der habituelle Ausdruck und Gesichtsschönheit152
Weitere Merkmale der Gesichtsschönheit154
Gesicht und Charakter155
Manipulation des Aussehens durch die Fotografie