Kapitel 3 Das Verhältnis zum Alltag (S. 153-154)
Einleitung Lernen Sie von Sisyphos!
Die Arbeit, der Beruf ist der Aspekt des Lebens, durch den sich die Menschen am häufigsten definieren. Ein guter Job, eine führende Position, der Erfolg des eigenen Unternehmens sind mehr als billige Prestigeattribute. Das Erreichte im Beruf bestimmt die Selbstachtung und die Achtung, die einem in der Gesellschaft entgegengebracht wird. Und dock streben die meisten Menschen darüber hinaus nach etwas Höherem, nach einem Sinn ihrer Tätigkeit, derüber das verdiente Geld und die Position im Unternehmen hinausweist. In den hier folgenden fünf Büchern wird es nicht nur darum gehen, wie man im Beruf Erfolge erreicht, sondern auch um die Frage, für welche höheren Ziele es lohnt, sich einzusetzen. Der eingangs zitierte Essay des franzosischen Schriftstellers Albert Camus behandelt die Sinnfrage in exemplarischer Weise.
„Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus." Dieses Zitat des großen griechischen Lyrikers Pindar hat Albert Camus seinem literarischen Essay„Der Mythos des Sisyphos"^ vorangestellt. Das Zitat enthalt in einem Satz den Kerngedanken des Essays, der die Frage der Arbeit auf einer grundsätzlichen, man konnte sagen, absoluten Ebene behandelt. Denn darin geht es um nichts weniger als den Sinn des Lebens, um die Frage, ob sich das Leben, also jegliche Arbeit, lohnt.
Camus bezeichnet die menschliche Existenz als absurd, weil am Ende des Lebens der Tod steht, der alle höheren Ziele nicht nur in Frage stellt, sondern zunichte macht. Damit ist auch jede tagtägliche Arbeit sinnlos. Dieser Gedanke, der Camus sein ganzes Leben hindurch beschäftigte, ist der Ausgangspunkt des„Mythos von Sisyphos".
Sisyphos ist von den Göttern dazu verurteilt, tagein, tagaus einen Felsblock auf einen Berg hinaufzuwalzen. Er muss die Arbeit immer wieder aufs Neue verrichten, denn der Felsblock rollt jedes Mal wieder ins Tal hinunter. Sisyphos Arbeit ist Strafe. Sein Verbrechen ist die„Verachtung der Götter, sein Hass gegen den Tod und seine Liebe zum Leben". In den Augen der Götter ist offensichtlich die höchste Strafe, die ein Mensch erhalten kann, bis in alle Ewigkeit ein Tun auf sich nehmen zu müssen, das keinen Sinn hat.
Sisyphos ist natürlich ein Symbol. Er steht zunächst für den„Dammerzustand" des Menschen, der die Absurdität seiner Existenz noch nicht begriffen hat. In dem Moment jedoch, in dem er sie hinterfragt, wird ihm die ewige Wiederkehr des immer Gleichen, die Sinnlosigkeit jeder Anstrengung bewusst. Doch Sisyphos bleibt auf dieser Stufe nicht stehen. Den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach ewigem Leben und somit nach der Sinnhaftigkeit der Existenz auf der einen und der sinnentleerten täglichen Qual auf der anderen Seite kann er zwar nicht aufheben. Aber er kann mit ihm leben.
Er begreift seine Grenzen, sieht seinem Schicksal ins Auge. Seinem Tun verlangt er keinen höheren Sinn mehr ab, er erwartet nicht mehr, dass der Stein eines Tages auf dem Berg oben liegen bleibt. Er identifiziert sich vielmehr mit der einzelnen Aufgabe, verschmilzt fast mit dem Felsblock.„Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abmüht, ist selber bereits Stein", heißt es in dem Essay. Sisyphos hat sein Leben selbst in die Hand genommen, seine Qual beendet, indem er in der Gegenwart zu leben beschließt. |